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VergMan ® Entscheidungen im Volltext – VK Thüringen: Stoffpreisklausel ist derzeit ein Muss
vorgestellt von Thomas Ax
Dem Bieter darf in den Vergabe- und Vertragsunterlagen kein ungewöhnliches Wagnis für Umstände und Ereignisse aufgebürdet werden, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung insbesondere auf die Preise er nicht im Voraus schätzen kann. Die Kriegsereignisse in der Ukraine und seine weltweiten Sanktionsfolgen sowie die dadurch ausgelöste und noch anhaltende dynamische Entwicklung dieser Preise bürden den Bietern ein ungewöhnliches Wagnis auf. Sind die Bieter derzeit einem ungewöhnlichen Wagnis ausgesetzt, kann dies durch die Aufnahme einer Stoffpreisklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen beseitigt werden.
VK Thüringen, Beschluss vom 03.06.2022 – 4002/779-2022-E-008-J
In dem Nachprüfungsverfahren, §§ 155 ff. GWB,
aufgrund des Antrages vom 13.05.2022 der ### ./. Freistaat Thüringen, vertreten durch das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr,
betreffend das Vergabeverfahren „Neubau Universitätscampus ### Vergabeverfahren Elektrotechnische Anlagen, KKE 0440.07 Mittelspannungsanlage (inkl. Trafo)“
(…)
hat die Vergabekammer Freistaat Thüringen, in der Besetzung mit Herrn Regierungsdirektor Scheid als Vorsitzendem, Herrn Oberregierungsrat Gers als hauptamtlichem Beisitzer und Herrn Rusche als ehrenamtlichem Beisitzer, ohne mündliche Verhandlung am 03.06.2022
beschlossen:
1. Es wird festgestellt, dass das vom Antragsgegner durchgeführte Vergabeverfahren rechtswidrig ist und die Antragstellerin hierdurch in ihrem Anspruch auf Einhaltung der Vergabevorschriften nach § 97 Absatz 6 GWB verletzt worden ist.
2. Der Antragsgegner wird bei fortbestehender Beschaffungsabsicht verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und es von diesem Zeitpunkt an unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen.
3. Der Antragsgegner hat die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen.
4. Die Beigeladene hat die ihr im Nachprüfungsverfahren ggf. entstandenen Aufwendungen selbst zu tragen.
5. Gebühren und Auslagen werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der AG hat im Supplement zum Amtsblatt der EU vom 18.02.2022 (ABl./S. 35, 86355-2022DE) den Bauauftrag zur Herstellung der in Nr. II.2.4) näher beschriebenen elektrotechnischen Anlagen -KKE 0440.07 Mittelspannungsanlage (inkl. Trafo)im Rahmen eines offenen Verfahrens europaweit ausgeschrieben. Die Herstellung dieser Anlagen erfolgt im Rahmen des Neubaus des Universitätscampus der ### und soll in der Zeit vom 23.06.2022 bis 08.03.2023 erfolgen. Die Bieter hatten ihre Angebote bis zum 31.03.2022 einzureichen.
Der Auftraggeber (AG) hat die Bieter zusätzlich mittels des Formblatts 211 zur Abgabe eines Angebots bis zum 31.03.2022 aufgefordert. Die Aufforderung der Bieter zur Abgabe eines Angebots hat nicht vorgesehen, dass das Formblatt 225 VHB (Stoffpreisgleitklausel) Vertragsbestandteil werden soll.
Die Antragstellerin (AST) hat am 30.03.2022 fristgereicht ein Angebot beim AG eingereicht.
Ausweislich der Vergabeakte des AG haben neben der AST drei weitere Bieter fristgerecht Angebote beim AG eingereicht, unter anderem auch die BEI. Das Angebot der BEI war das preislich günstigste Angebot, das Angebot der AST belegte den Rangplatz 2.
Die AST hat am 05.04.2022 den AG um die Ergänzung der Vergabeunterlagen um das Formblatt 225 VHB (Stoffpreisgleitklausel) gebeten und zur Begründung dafür die aktuelle Preis-entwicklung angeführt. Der AG hat diesem Anliegen der AST am 06.04.2022 sowie in der Folgezeit nicht entsprochen.
Nach erfolgter Angebotswertung hat der AG am 05.05.2022 die AST gemäß § 134 GWB darüber informiert, ihr Angebot nicht berücksichtigen zu wollen, und er beabsichtige, den Zuschlag am 16.05.2022 auf das Angebot der BEI erteilen zu wollen. Der AG hat zur Begründung mitgeteilt, dass die AST nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe.
Die AST ist am 10.05.2022 in dem parallelen Vergabeverfahren 0156/22-B-EO-51 unter anderem zur Frage der erforderlichen Aufnahme von Stoffpreisgleitklauseln (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen anwaltlich beraten worden. Sie hat daraufhin am 11.05.2022 im vorliegenden Vergabeverfahren die bislang nicht erfolgte Aufnahme von entsprechenden Stoffpreisgleitklauseln (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen gerügt. Sie hat zur Begründung ihrer Rüge ausgeführt, dass der AG trotz der Nachfrage der AST vom 05.04.2022 bis zum heutigen Tage die insofern bedeutsamen Rundschreiben des BMWSB vom 25.03.2022 sowie des TMWWDG vom 26.04.2022 nicht umgesetzt habe. Der AG müsse den entsprechenden Inhalt dieser Schreiben bei allen Bundesund Landeshochbauten umsetzen. Die AST hat die derzeitige Verfahrensweise des AG gerügt und die Aufhebung und Zurückversetzung des Vergabeverfahrens verlangt. Das Rundschreiben des Bundes erstrecke sich auch auf Vergabeverfahren, bei denen die Angebotseröffnung bereits erfolgt sei. Den Bietern müsse die Chance auf eine faire und transparente Kalkulation hinsichtlich der aktuellen Rahmenbedingungen gegeben werden. Die AST sehe sich im laufenden Verfahren in ihren Rechten verletzt.
Der AG hat am 13.05.2022 die Rüge der AST zurückgewiesen. Er hat zur Begründung seiner Rügezurückweisung ausgeführt, dass er am 06.04.2022 die Anfrage der AST vom 05.04.2022 beantwortet habe, und die AST um Rückinformation gebeten habe, wie ihre Nachricht zu verstehen sei, da sie diese gleichlautend in mehreren Verfahren gestellt habe. Die AST habe hierauf nicht geantwortet, so dass der AG davon ausgegangen sei, dass sich die Anfrage der AST zum vorliegenden Verfahren erledigt habe.
Die AST hat daraufhin noch am selben Tag einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer gestellt.
Sie hat im Einzelnen beantragt,
1. ein Vergabenachprüfungsverfahren gemäß den §§ 160 ff. GWB gegen den AG einzuleiten,
2. der AST gemäß § 165 Absatz 1 GWB die Einsichtnahme in die Vergabeakte des AG zu gestatten,
3. dem AG aufzugeben, das Vergabeverfahren zum Zeitpunkt vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen,
4. hilfsweise andere geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Rechte der AST zu wahren und
5. dem AG die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der AST aufzuerlegen.
Die AST hat zur Begründung ihres Nachprüfungsantrags ihren Rügevortrag vom 11.05.2022 wiederholt und vertieft.
Die Vergabekammer hat dem AG am 13.05.2022 den Nachprüfungsantrag der AST übersendet und diesen um Vorlage der Vergabeakte bis zum 18.05.2022 sowie um Stellungnahme zum Nachprüfungsantrag bis zum 20.05.2022 gebeten.
Die AST hat auf Anforderung der Vergabekammer vom 13.05.2022 einen Kostenvorschuss für das Nachprüfungsverfahren in Höhe der Mindestgebühr von 2.500,00 Euro entrichtet.
Der AG hat der Vergabekammer am 17.05.2022 die Vergabeakte zur Verfügung gestellt. Die Vergabekammer hat die Beigeladene (BEI) am 18.05.2022 gemäß § 162 zum Verfahren beigeladen.
Die Verfahrensbeteiligten haben auf Vorschlag der Vergabekammer vom 19.05.2022 am 20.05.2022, 23.05.2022 und 24.05.2022 gemäß § 166 Absatz 1 Satz 3, 1. Alternative GWB ihre Zustimmung zu einer Entscheidung der Vergabekammer nach Lage der Akten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung erteilt.
Der AG hat am 20.05.2022 Stellung zum Nachprüfungsantrag der AST genommen.
Er hat dabei im Einzelnen beantragt,
1. den Nachprüfungsantrag der AST als unbegründet zu verwerfen,
2. der AST Akteneinsicht nur in eingeschränktem Umfang zu gewähren und
3. der AST die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des AG aufzuerlegen.
Der AG hat zur Begründung der von ihm beantragten Zurückweisung des Nachprüfungsantrags ausgeführt, dass die AST ihrer Rügeobliegenheit nach § 160 Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht rechtzeitig nachgekommen sei, da sie bereits am 05.04.2022 Kenntnis vom Erlass des Bundes vom 25.03.2022 und vom Formblatt 225 (Stoffpreisgleitklausel) gehabt habe und daher die entsprechende Rüge der AST vom 11.05.2022 nicht innerhalb der zehntägigen Rügefrist erhoben worden sei.
Die Vergabekammer hat der AST am 23.05.2022 Einsicht in die Vergabeakte des AG gewährt, soweit keine geheimhaltungsbedürftigen Aktenbestandteile betroffen waren, indem sie ihr die zur Akteneinsicht eröffneten Aktenbestandteile in Kopie übersendet hat.
Die AST hat am 25.05.2022 ihren Rügevortrag vom 11.05.2022 und 13.05.2022 wiederholt und vertieft.
Die Vergabekammer nimmt ergänzend Bezug auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Vergabeakte des AG sowie auf die Verfahrensakte der Vergabekammer.
II.
1. Zulässigkeit
Der Nachprüfungsantrag des AST ist zulässig.
a) Die Vergabekammer ist für das Nachprüfungsverfahren gemäß den §§ 155, 156 Absatz 1, 2. HS, 158 Absatz 2 und 159 Absatz 2 Satz 1 GWB in Verbindung mit § 2 Absatz 1 Satz 1 ThürVkVO sachlich und örtlich zuständig.
Der AG ist öffentlicher Auftraggeber nach den §§ 98, 99 Nr. 1 GWB.
Die ausgeschriebene Herstellung von elektrotechnischen Anlagen -KKE 0440.07 Mittelspannungsanlage (inkl. Trafo) hat einen öffentlichen Bauauftrag im Sinne von § 103 Absätze 1 und 3 GWB und Artikel 2 Absatz 1 Nrn. 5 und 6 der Richtlinie 2014/24/EU zum Gegenstand.
Der für diesen Auftrag nach § 106 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 Nr. 1 GWB in Verbindung mit Artikel 4 lit. a) der Richtlinie 2014/24/EU geltende Schwellenwert in Höhe von 5.382,000 Euro ohne Mehrwertsteuer ist mit Blick auf die vom AG am 25.01.2022 gemäß § 3 Absatz 6 VgV vorgenommene Schätzung des voraussichtlichen Gesamtauftragswertes des Bauvorhabens deutlich überschritten.
b) Die AST hat nach der am 13.05.2022 erfolgten Rügezurückweisung des AG bereits am selben Tag bei der Vergabekammer gemäß den §§ 160 Absatz 1, 161 GWB einen schriftlichen und näher begründeten Nachprüfungsantrag innerhalb der in § 160 Absatz 3 Satz 1 Nr. 4 GWB geltenden 15-Tage-Frist gestellt.
c) Die AST ist gemäß § 160 Absatz 2 GWB antragsbefugt.
Nach dieser Bestimmung ist jedes Unternehmen antragsbefugt, das ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag oder der Konzession hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Absatz 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Dabei ist darzulegen, dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung von Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.
aa) Die AST hat ihr Interesse an einer Beauftragung mit der ausgeschriebenen Herstellung von elektrotechnischen Anlagen mit ihrem Angebot vom 30.03.2022, ihrer Rüge vom 11.05.2022 sowie mit ihrem Nachprüfungsantrag vom 13.05.2022 deutlich zum Ausdruck gebracht.
bb) Die AST hat eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Absatz 6 GWB durch Nichtbeachtung von bieterschützenden Vergabevorschriften, hier die vom AG bislang abgelehnte Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen -Verstoß gegen § 7 Absatz 1 Nr. 3 VOB/A-EU-, geltend gemacht.
cc) Die AST hat einen ihr drohenden Schaden dargelegt, der sich daraus ergibt, dass der AG sie am 05.05.2022 über die Nichtberücksichtigung ihres Angebots und über seine Absicht informiert hat, das Angebot der BEI am 16.05.2022 bezuschlagen zu wollen, und dadurch der AST der ausgeschriebene Auftrag zu entgehen droht.
d) Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch kein zwischenzeitlich erteilter Zuschlag nach § 168 Absatz 2 GWB entgegen.
e) Die AST ist mit ihrer Rüge vom 11.05.2022 ihrer Rügeobliegenheit nach § 160 Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nachgekommen.
Nach § 160 Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 GWB muss der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften, den er von Einreichen des Nachprüfungsantrags positiv erkannt hat, gegenüber dem Auftraggeber innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt haben. Positive Kenntnis besitzt der Antragsteller erst dann, wenn er zum einen die den Verstoß begründenden Tatsachen kennt und zum anderen aus den Tatsachen bei laienhafter Wertung den Schluss zieht, dass ein Vergaberechtsverstoß vorliegt. Der Antragsteller muss aufgrund seiner subjektiven Einschätzung von einem Verstoß gegen das Vergaberecht ausgehen (OLG Karlsruhe, NZBau 2013, 528, 529). Der positiven Kenntnis steht nach der Rechtsprechung gleich, wenn der Kenntnisstand des Antragstellers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einen solchen Grad erreicht hat, dass seine Unkenntnis vom Vergaberechtsverstoß nur als ein mutwilliges Sich-Verschließen vor der Erkenntnis des Rechtsverstoßes verstanden werden kann. Hieran sind indes strenge Anforderungen zu stellen, deren Erfüllung vom Auftraggeber darzulegen ist (BGH, VergabeR 2007, 59, 65; OLG Jena, NZBau 2011, 771, 772).
Der AST sind aus ihrer Bieterpraxis Stoffpreisklauseln (Formblatt 225 VHB) bekannt. So hat sie am 05.04.2022 im vorliegenden Vergabeverfahren 0202/22-B-EO-51 sowie in den parallelen Vergabeverfahren 0156/22-B-EO-51 und 0299/22-B-EO-51 gegenüber dem AG die Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen verlangt. Sie hat offenbar die Aufnahme einer solchen Stoffpreisgleitklausel in diesen Vergabeverfahren aufgrund der aktuellen, sehr dynamischen Preisentwicklung im Rohstoff- und Energiebereich für zweckmäßig erachtet. Der AG hat die Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel im vorliegenden Vergabeverfahren und im parallelen Vergabeverfahren 0156/22-B-EO-51 am 06.04.2022 sowie in der Folgezeit zurückgewiesen, hingegen im Vergabeverfahren 0299/22-B-EO-51 am 12.04.2022 vorgenommen. Das BMWSB hat nach näherer Maßgabe seines Rundschreibens Lieferengpässe und Preissteigerungen wichtiger Baumaterialien als Folge des Ukraine-Kriegs vom 25.03.2022 für seinen Zuständigkeitsbereich unter anderem die Aufnahme von Stoffpreisklauseln in laufenden Vergabeverfahren angeordnet. Selbst bei bereits erfolgter Angebots(er)öffnung soll nach Nr. III., Unterabsatz 3, des Rundschreibens das Vergabeverfahren zur Vermeidung von Streitigkeiten bei der Bauausführung in den Stand vor Angebotsabgabe zurückversetzt werden, um Stoffpreisklauseln einbeziehen und ggf. Ausführungsfristen verlängern zu können. Der Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft hat dieses Rundschreiben am 28.03.2022 an das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr mit der Bitte um Beachtung übersendet. Die AST ist am 10.05.2022 in dem parallelen Vergabeverfahren 0156/22-B-EO-51 unter anderem zur Frage der Notwendigkeit der Aufnahme von Stoffpreisgleitklauseln (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen anwaltlich beraten worden. Sie hat daraufhin am 11.05.2022 im vorliegenden Vergabeverfahren die bislang nicht erfolgte Aufnahme von entsprechenden Stoffpreisgleitklauseln (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen gerügt. Die Vergabekammer geht davon aus, dass die AST erst nach der anwaltlichen Beratung am 10.05.2022 davon Kenntnis erlangt hat, dass die bislang nicht erfolgte Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen einen Verstoß gegen das Vergaberecht begründet bzw. begründen kann. Die AST hat vor ihrer anwaltlichen Beratung dieses Rechtsbewusstsein bzw. diese Rechtskenntnis -sei es auch nur im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphärenicht gehabt. Die wenn auch nur laienhafte Feststellung einer Vergaberechtswidrigkeit als Folge einer nicht erfolgten Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen erfordert doch einen gewissen Begründungsaufwand (vgl. hierzu auch Kues, VPR 2022, 42), der einem durchschnittlich fachkundigen Bieter mit den üblichen Kenntnissen nicht ohne weiteres möglich sein dürfte. Die Vergabekammer hat auch keine Kenntnis davon, ob der AST bereits vor ihrer anwaltlichen Beratung das Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 bekannt war. Dem Rundschreiben kann allerdings nicht eindeutig entnommen werden, das eine nicht erfolgende Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel in die Vergabeunterlagen eine Vergaberechtswidrigkeit des entsprechenden Vergabeverfahrens zur Folge hat bzw. haben kann. Dafür hat der Bund die entsprechenden Ausführungen in seinem Rundschreiben zu wenig vergaberechtlich untersetzt. Folglich kann selbst bei einer Kenntnis des Rundschreibens das erforderliche Rechtsbewusstsein bzw. Rechtskenntnis der AST vom Vorliegen eines Vergaberechtsverstoßes nicht zwingend abgeleitet werden. Die Vergabekammer kann auch nicht erkennen, dass sich die AST der Erkenntnis eines entsprechenden Vergaberechtsverstoßes mutwillig verschlossen hat. Nach alledem kann die AST die vom AG bislang abgelehnte Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen in zulässiger Weise rügen.
2. Begründetheit
Der Nachprüfungsantrag des AST ist auch begründet.
Die bislang erfolgte Ablehnung der Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225) in die Vergabeunterlagen durch den AG begründet einen Verstoß gegen § 7 Absatz 1 Nr. 3 VOB/A-EU.
Nach dieser Bestimmung darf dem Auftragnehmer in den Vergabe- und Vertragsunterlagen kein ungewöhnliches Wagnis für Umstände und Ereignisse aufgebürdet werden, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung insbesondere auf die Preise er nicht im Voraus schätzen kann. Aufgrund der Kriegsereignisse in der Ukraine und der in der Folge verhängten weltweiten Sanktionen gegen Russland sind die Preise vieler Baustoffe zum Teil extrem gestiegen. Der Krieg und seine weltweiten Sanktionsfolgen sowie die dadurch ausgelöste und noch anhaltende dynamische Entwicklung dieser Preise bürden den Bietern ein ungewöhnliches Wagnis gemäß § 7 Absatz 1 Nr. 3 VOB/A-EU auf. Die Bieter haben auf diese Umstände und Ereignisse keinen Einfluss und können deren Einwirkungen auf die Preise nicht im Voraus schätzen. Die Bieter dürfen zu ihrem Schutz keiner Situation ausgesetzt werden, in der ihnen die Preiskalkulation aufgrund dieser außerhalb ihrer Sphäre liegender Faktoren unzumutbar erschwert ist und das daraus entstehende Risiko die übliche Risikoverteilung übersteigt. Die Bieter haben keinen Einfluss auf die Kriegssituation in der Ukraine sowie auf die weltweiten Sanktionsfolgen und die dadurch ausgelöste und noch anhaltende dynamische Entwicklung der Preise für viele Baustoffe. Den Bietern ist aufgrund dieser Entwicklung eine kaufmännisch vernünftige Preiskalkulation unzumutbar erschwert bzw. unmöglich gemacht worden. Die Bieter der vorliegenden Ausschreibung sind daher derzeit einem ungewöhnlichen Wagnis ausgesetzt, das durch die bislang vom AG abgelehnte Aufnahme einer Stoffpreisklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen beseitigt werden kann. Mit der Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen ist den Bietern der vorliegenden Ausschreibung wieder eine kaufmännisch vernünftige Preiskalkulation möglich und sie müssen nicht mehr einseitig und in unzumutbarer Weise das Risiko von zukünftig stark steigenden Baustoffpreisen tragen (vgl. auch Kues, VPR 2022, 42).
Die Vergabekammer merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Angebote der Bieter ganz deutlich über der vom AG veranschlagten Auftragssumme für die vorliegende Ausschreibung liegen. Sie vermutet, dass die Bieter aufgrund der auch zukünftig noch zu erwartenden dynamischen Entwicklung vieler Preise bereits entsprechend hohe Risikoaufschläge einkalkuliert haben. Es liegt auch im (haushalterischen) Interesse des AG, die Bieter bieten die derzeit und in nächster Zeit geltenden Marktpreise an, und weitere, erhebliche Preissteigerungen werden dann zur gegebenen Zeit durch die Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) abgefedert. Das BMWSB hat jedenfalls nach näherer Maßgabe seines Rundschreibens vom 25.03.2022 für seinen Zuständigkeitsbereich die Aufnahme einer Stoffpreisklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen auch bei bereits laufenden Vergabeverfahren angeordnet. Selbst bei bereits erfolgter Angebots(er)öffnung ist gemäß Nr. III., Unterabsatz 3, des Rundschreibens das Verfahren zur Vermeidung von Streitigkeiten bei der Bauausführung in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen, um Stoffpreisgleitklauseln einbeziehen und ggf. Ausführungsfristen verlängern zu können. Die Ausführung des ausgeschriebenen Auftrags erfordert ausweislich des Leistungsverzeichnisses insbesondere die Verwendung von Stahl, Stahllegierungen, Aluminium und Kupfer. Der Stoffkostenanteil der betreffenden Stoffe überschreitet im vorliegenden Fall wertmäßig ein Prozent der vom AG geschätzten Auftragssumme für die vorliegende Ausschreibung. Die Beigeladene in dem Nachprüfungsverfahren 5090-250-4002/779, die im vorliegend verfahrensgegenständlichen Vergabeverfahren ebenfalls Bieterin war, hat dies am 01.06.2022 der Vergabekammer fernmündlich bestätigt. Damit sind insbesondere die Anwendungsvoraussetzungen für die Aufnahme einer Stoffpreisklausel (Formblatt 225 VHB) nach Nr. 2.1 c) der Richtlinie zum Formblatt 225 VHB sowie nach dem Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 erfüllt. Die Vergabekammer macht darauf aufmerksam, dass das Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft am 28.03.2022 das Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 an das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr mit der Bitte um Beachtung für den vorliegend bedeutsamen Anwendungsbereich übersendet hat. Diese Mitteilung vom 28.03.2022, die wie das Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 als Verwaltungsvorschrift einzuordnen ist, enthält den folgenden ergänzenden Hinweis:
„Nach Hinweis des BWI bitte ich um Beachtung, dass Stoffpreisgleitklauseln für Nichteisenmetalle zur Zeit nicht unter Heranziehung des Formblattes 228 vereinbart werden können, weil die Deutsche Elektrolyt-Kupfer-Notiz (DEL) die Kupferpreisnotierung ausgesetzt hat. Stoffpreisgleitklauseln für Nichteisenmetalle sind daher ebenfalls unter Verwendung des Formblattes 225 und der Indizes des Statistischen Bundesamtes zu vereinbaren.“
Demnach war das Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 im hier interessierenden Zusammenhang ohne Einschränkungen anzuwenden. Das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr hatte daher zumindest für den im Rahmen der Ausführung des Auftrags zu verwendenden Stahl, Stahllegierungen, Aluminium und Kupfer Stoffpreisgleitklauseln (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen aufzunehmen. Die Vergabekammer entnimmt der Vergabeakte einen auf den 07.02.2022 datierten Vermerk des Thüringer Landesamtes für Bau und Verkehr, der folgendermaßen lautet:
„Für diese Ausschreibung wird die Stoffpreisklausel nicht angewendet (VHB Fbl. 225).
Die Preisentwicklung für die elektrischen Geräte, Kabel und Installationsmaterialien ist moderat – siehe Anlage (Auszüge aus Erzeugerpreisliste).
Es werden keine Stoffe eingesetzt, die nach ihrer Eigenart Preisveränderungen in besonderem Maße ausgesetzt sind und ein nicht kalkulierbares Preisrisiko für diese Stoffe zu erwarten ist.
Es besteht derzeit kein erhöhtes Risiko/Wagnis für die Bieter.“
Dieser Vermerk konnte dem am 24.02.2022 begonnen Ukrainekrieg, den späteren weltweiten Sanktionsfolgen und den dadurch ausgelösten erheblichen Preissteigerungen bei vielen Baustoffen noch nicht Rechnung trage. Er ist durch diese späteren Entwicklungen als inhaltlich überholt anzusehen.
Die Vergabekammer entnimmt im parallelen Vergabeverfahren 0156/22-B-EO-51 der dortigen Vergabeakte weiter einen auf den 30.03.2022 datierten Vermerk über ein Telefonat eines Vertreters des Thüringer Landesamtes für Bau und Verkehr mit dem Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft, Herrn ###, das folgendermaßen lautet:
„Mitteilung, dass Ziffer III. des Erlasses für fraglich und unzulässig angesehen wird. Soweit Angebotsöffnungen stattgefunden haben und das Eröffnungsprotokoll verschickt wurde und damit Kenntnis über die Angebote der anderen Bieter besteht, würde eine Verzerrung des Wettbewerbes eintreten.
Darüber hinaus besteht für die bezuschlagten Angebote die Möglichkeit einer nachträglichen Einbeziehung der Stoffpreisklausel. Insofern wird die Realisierung eines ggf. bestehenden Kalkulationsrisikos als gering eingeschätzt.
Herr ### wird um Einschätzung gebeten, ob dieser Ansicht gefolgt und für die unter III. des Erlasses fallenden Vorgänge unter Berücksichtigung der dargestellten Argumentation nicht zurückversetzt werden.
Herr ### stimmt dem zu.“
Der Vermerk lässt erkennen, dass das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr mit seiner bisherigen Ablehnung der Aufnahme einer Stoffpreisklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen von dem Rundschreiben des Bundes vom 25.03.2022 und von der schriftlichen Mitteilung (Verwaltungsvorschrift) des Thüringer Ministeriums für Infrastruktur und Landwirtschaft vom 28.03.2022 abgewichen ist, ohne dass hierfür ein sachlicher, rechtfertigender Grund bestanden hat. Dies gilt ungeachtet der insofern am 30.03.2022 erfolgten fernmündlichen Unterredung eines Vertreters des Thüringer Landesamtes für Bau und Verkehr mit einem Vertreter des Thüringer Ministeriums für Infrastruktur und Landwirtschaft. Die Information der Bieter und eine mögliche Einsichtnahme in die Niederschrift über den Öffnungstermin nach § 14 Absatz 6 VOB/A-EU ermöglichen den Bietern unter anderem die Kenntnisnahme der Angebotsendsummen der anderen Bieter; sie können dadurch ihre Wettbewerbsposition besser einschätzen (Burgi/Dreher, a.a.O., § 14 VOB/A-EU, Rdn. 42). Die Möglichkeit der Kenntnisnahme unter anderem der Angebotsendsummen der anderen Bieter ist von der VOB/A-EU so gewollt und begründet für sich keine Verzerrung des Wettbewerbs, wie der AG meint. Die erlangte Kenntnisnahme kann zwar im Falle einer Zurückversetzung des Vergabeverfahrens vor Angebotsabgabe die Kalkulation/Erstellung eines neuen Angebots durch die Bieter beeinflussen. Die Vergabekammer geht aber vorliegend nicht davon aus, dass dadurch eine Verzerrung des Wettbewerbs eintritt, wie der AG meint. Vielmehr erlaubt die Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) in die Vergabeunterlagen den Bietern im Rahmen der Erstellung eines neuen Angebots, die derzeit und in nächster Zeit geltenden Marktpreise anzubieten. Sie müssen nicht mehr aufgrund der auch zukünftig noch zu erwartenden dynamischen Entwicklung vieler Preise entsprechend hohe Risikoaufschläge einkalkulieren. Weitere, erhebliche Preissteigerungen werden zur gegebenen Zeit durch die Stoffpreisgleitklausel (Formblatt 225 VHB) abgefedert. Dies liegt auch im (haushalterischen) Interesse des AG. Die Vergabekammer geht davon aus, dass die Bieter nach einer Zurückversetzung des Vergabeverfahrens vor Angebotsabgabe ihre Angebote aufgrund dieser Umstände in den Positionen, in denen die Stoffpreise von großer Bedeutung sind, grundlegend neu kalkulieren werden. Die Kenntnis der bisherigen Angebotsendsummen der anderen Bieter wird auf die Kalkulation der neuen Angebote nach Einschätzung der Vergabekammer keinen ausschlaggebenden Einfluss mehr haben. Die Annahme des AG, das Kalkulationsrisiko der Bieter sei vorliegend als gering einzuschätzen, ist angesichts der dynamischen Entwicklung vieler, auch im vorliegenden Fall bedeutsamer Preise unzutreffend. Diese Annahme des AG widerspricht zudem auch den Feststellungen in Nr. II., Unterabsatz 2, des Rundschreibens des Bundes vom 25.03.2022, die ausdrücklich von einem nicht kalkulierbaren Preisrisiko der Bieter für die von dem Rundschreiben erfassten Stoffe ausgehen.
3. Kostenentscheidung
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
Der AG hat gemäß § 182 Absatz 4 Satz 1 GWB die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der AST zu tragen, da er in dem Verfahren unterlegen ist.
Der AG hat zwar gemäß § 182 Absatz 3 Satz 1 GWB grundsätzlich die Kosten des Verfahrens zu tragen, da er in dem Verfahren unterlegen ist. Er hat jedoch vorliegend keine Gebühren zu tragen, da er gemäß § 182 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit § 8 Absatz 1 Nr. 2 VwKostG bzw. gemäß § 3 Absatz 1 Nr. 1 ThürVwKostG von der Zahlung von Gebühren persönlich befreit ist. Auch sind vom AG zu erstattende Auslagen der Vergabekammer nicht angefallen.
Die BEI ist nicht als unterlegene Beteiligte anzusehen, da sie vor der Vergabekammer keinen Antrag zur Hauptsache gestellt und sich auch sonst nicht mit dem erkennbaren Begehren, den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen, an dem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer beteiligt hat (Müller-Wrede, Kommentar GWB-Vergaberecht, 2016, § 182, Rdn. 66, 95 und 97). Sie trifft daher keine Pflicht zur (Mit-) Tragung von Verwaltungsgebühren und der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der AST. Sie hat ihre im Nachprüfungsverfahren ggf. entstandenen Aufwendungen selbst zu tragen. Sie hat weder Anträge gestellt noch hat sie sich an der mündlichen Verhandlung beteiligt, so dass es gemäß § 182 Absatz 4 Satz 2 GWB nicht der Billigkeit entspricht, etwaige Aufwendungen der BEI dem unterlegenen AG aufzuerlegen.
Die AST hat bereits einen Kostenvorschuss in Höhe der Mindestgebühr von 2.500,00 Euro gezahlt. Da sie im vorliegenden Verfahren obsiegt hat und sie daher keine Verwaltungskosten zu tragen hat, ist ihr dieser Betrag nach Eintritt der Bestandskraft dieses Beschlusses zurückzuerstatten. Die AST wird daher um die Mitteilung der Bankverbindung gebeten, auf welche die Erstattung dann erfolgen soll.
(…)